Dr. Michael Stöhr: Was Europa jetzt braucht.
Michael Stöhr
ÖDP
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Frage von Katharina D. •

In Frankreich hat eine Studie ergeben, dass Atomstrom günstiger ist als aus erneuerbaren Energien. Warum lehnt die ÖDP Atomstrom trotzdem ab?

Dr. Michael Stöhr: Was Europa jetzt braucht.
Antwort von
ÖDP

Es handelt sich um die Studie "Futurs Énergétiques 2050", https://rte-futursenergetiques2050.com/. In dieser wurden mehrere unrealistische Annahmen vorgenommen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Neubau von Atomkraftwerken in Frankreich zum kostengünstigsten Strommix führt. Die gröbste und zugleich für die meisten Menschen am schwersten zu erkennende unrealistische Annahme ist die eines gewichteten durchschnittlichen Kapitalzins von 4% für alle in den verschiedenen verglichenen Szenarien berücksichtigten Technologien.

Jede seriöse volkswirtschaftliche Studie, die Szenarien für die Energieversorgung eines Landes durchrechnet, unterscheidet zwischen Investitionen, die von kleinen Akteuren (Bürger:innen, Landwirte, klein- und mittelständige Unternehmen) vorgenommen werden, und solchen, die von großen Akteuren, in der Regel börsennotierten großen Kapitalgesellschaften, vorgenommen werden. Für kleine Akteure ist ein Kapitalzins von 4% eine gängige und realistische Annahme, bei Kapitalgesellschaften ist jedoch eher ein hoher einstelliger Kapitalzins von 7% oder mehr anzusetzen.

Auf der Seite 603 der Studie findet man ein Diagramm mit den Ergebnissen einer Sensitivitätsanalyse, aus welchem hervorgeht, dass bei einem Kapitalzins von 7% für neue Atomkraftwerke ungefähr Kostengleichheit für verschiedene Szenarien mit unterschiedlichem Strommix erreicht wird. Korrigiert man weitere zu optimistische Annahmen für Atomkraftwerke oder nimmt einen höheren Kapitalzins als 7% für Atomkraftwerke an, folgt, dass deren Neubau nicht sinnvoll, sondern der Ausbau erneuerbarer Energien in Frankreich die beste Option ist.

Ich werde es mir als Abgeordneter im Europaparlament zur Aufgabe machen, solche offensichtlich manipulativen Annahmen und andere Tricks, mit denen Studien auf ein gewünschtes Ergebnis hingebogen werden, aufzudecken. Dabei stütze ich mich auf ein Netzwerk von Mitstreiter:innen, u.a. die französischen Kollegen, welche mir ihre Ergebnisse des Faktenchecks zur genannten Studie haben zukommen lassen. Manipulative Annahmen dienen in der Regel den Profitinteressen von wenigen und schaden vielen. Sie aufzudecken dient dem Gemeinwohl und dafür mache ich Politik.

Gegen Atomkraftwerke sprechen außer den zu hohen Kosten noch andere Gründe:

  • Es profitieren nur wenige von den hohen Gewinnen der Installation- und Betreiberfirmen, während alle über ihre Stromrechnung diese hohen Gewinne bezahlen müssen, auch Haushalte mit geringem Einkommen. Das ist unsozial.
  • Der Bau dauert zu lange und kommt für den Klimaschutz zu spät. Das ist unökologisch.
  • Atomenergie hat nie mehr als 3% des Weltenergiebedarfs gedeckt. Erneuerbare Energie kann weit über 100% dieses Bedarfs decken.
  • Uran wird von EU-Staaten aus Ländern importiert, in denen autoritäre Regime an der Macht sind. Mit den Erlösen aus dem Verkauf des Urans werden Kriege finanziert.
  • Atomenergie ist nicht sicher.
  • Es gibt nach wie vor keine Lösung für die dauerhafte Entsorgung des Atommülls.

Weitere Informationen zur Studie "Futures énergétiques 2050" gebe ich, und andere Beispiele, wie oft mit einfachen Verfahren zweifelhafte Informationen überprüft werden können, erläutere ich in meinem Vortrag "Demokratie oder Expertokratie? Entscheidungsfindung in einer unübersichtlichen Welt", der auf Youtube zu finden ist: https://www.youtube.com/watch?v=UTcxBbPa5ik

Zu den philosophischen und mathematischen Hintergründen des Zinssatzes finden Sie weitere Ausführungen von mir auf den ersten Seiten des Exposé "Begründung der finanzmathematischen Formeln in ...",  https://github.com/baumconsult/gridcon/blob/master/economics_BAUM_171128_kommentiert_3.pdf 

Der Zinssatz, genauer: der gewichtete durchschnittliche Kapitalzins, wirkt sich bei Investitionen mit hohen Anfangs- und niedrigen Betriebskosten besonders stark aus. Dazu gehören Atomkraftwerke, Photovoltaik- und Windkraftanlagen, Strom- und Gasleitungen u.a. Bei einem niedrigen Zinssatz sind die Energiekosten für alle gering, bei einem hohen sind sie hoch. Niedrig ist er, wenn Bürger:innen, Landwirte u.a. investieren, hoch, wenn börsennotierte große Kapitalunternehmen investieren. Der Unterschied liegt in den meisten Fällen bei fast einem Faktor zwei. Anhängende Graphik zeigt die Stromgestehungskosten einer Photovoltaikanlage. Diese können bei der gleichen Anlage (gleiche Anschaffungs- und Betriebskosten!) im Extremfall zwischen 3 und 8 ct/kWh liegen, je nachdem, wer die Anlage betreibt, und wie hoch der Kapitalzins ist.

U.a. auf Grund dieser starken Abhängigkeit der Energiegestehungskosten davon, wer die Anlagen (und Netze) besitzt und betreibt, möchte die ÖDP Energiegemeinschaften nach EU-Recht zur tragenden Säule der Energieversorgung machen - es ist sozial! Mehr dazu steht in unserem Bundespolitischen Programm, Kap. 1.2, Energie: https://www.oedp.de/fileadmin/user_upload/bundesverband/programm/programme/BundespolitischesProgramm2023.pdf 

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